Forschungsprojekt: Verständliche Radionachrichten

Von Ines Bose und Dietz Schwiesau

Die Regeln für das Schreiben und Sprechen von Radionachrichten sind bisher nur unzulänglich beschrieben worden. Um die Entwicklung der Kriterien haben sich vor allem Radiopraktiker bemüht. Allerdings beruhen diese Kriterien auf Konventionen und sind wissenschaftlich nicht gestützt. Im Vordergrund steht in der Praktikerliteratur vor allem die Nachrichtensprache. Das Nachrichtensprechen wurde dabei meist nur gestreift.

Inzwischen wird die Hörverständlichkeit von Radionachrichten in einer interdisziplinären Kooperation zwischen der Sprechwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und dem MDR erforscht. Gegenstand ist der Zusammenhang von redaktionellen, sprachlichen und sprecherischen Faktoren bei der Nachrichtenproduktion und -rezeption. Anders als in den meisten bisherigen Verständlichkeitsforschungen konzentrieren wir uns also nicht nur auf die Texteigenschaften von Nachrichten, sondern berücksichtigen von vornherein den Zusammenhang von Sprache – Sprechen – Hörverstehen. Aus unseren Forschungen leiten wir Didaktisierungsvorschläge zur Optimierung von Sprache und Sprechen im Radio ab.

Die Grundannahmen

1.) Nachrichtensprache und -sprechen sind einerseits in zahlreichen Eigenschaften sehr homogen, andrerseits zeigen sich Einflüsse von Format und Sender. Diese Formatanpassung nehmen Hörer wahr.

2.) Sowohl die Nachrichtensprache als auch das Nachrichtensprechen haben Einfluss darauf, wie gut Radiohörer sich an die Nachrichten erinnern können: Hörverständlich geschriebene und sinnvermittelnd gesprochene Nachrichten werden am besten behalten.

3.) Die Nachrichtensprache beeinflusst aber auch das Nachrichtensprechen: Hörverständlich geschriebene Nachrichten können sinnvermittelnd gesprochen werden.

Die Forschungsmethoden

Anhand von großen Nachrichtensammlungen beschreiben und analysieren wir authentische Radionachrichten und ihre Elemente linguistisch, rhetorisch und phonetisch (Link zum Text von Sven Grawunder, kommt noch). Es liegen bisher Untersuchungen zu Sprache und Sprechen von öffentlich-rechtlichen und privaten Radionachrichten, von Kindernachrichten, langsam gesprochenen Nachrichten der Deutschen Welle, Nachrichtenberichten und von Nachrichten nach Stichwortzettel vor (vgl. Gutenberg 2005, Anders/Bose 2009, Bose/Schwiesau 2011, Bose 2015).

Anhand von speziell angefertigten Testnachrichten befragen wir Radiohörer danach, wie sie Nachrichten beurteilen und verstehen. In Hörexperimenten wird getestet, ob Hörer anhand der Nachrichten verschiedene Formate identifizieren können.

Wir befragen Nachrichtenredakteure und -sprecher in ganz Deutschland nach ihren Leitbildern und Erfahrungen, v.a. im Hinblick auf Hörverständlichkeit und Formatspezifik, und bitten sie, speziell angefertigte Testnachrichten zu sprechen. Anhand dieser Sprechfassungen können wir Aussagen zu aktuellen Nachrichten-Sprechstilen machen.

Für die Hörverständlichkeitsuntersuchungen haben wir eine alltagsnahe fiktive Nachrichtensendung entworfen. Die Grundlage dafür bilden unsere Analysen authentischer Hörfunknachrichten und verbreitete Normvorstellungen über Sprache und Sprechen von Nachrichten.

Die Fiktive Radionachrichten-Testsendung

Folgende Merkmale trafen auf die Testsendung zu:

Konkreter Formatbezug: fiktives öffentlich-rechtliches oder privates Radioprogramm // Kein aktueller Bezug, kein Bezug auf konkrete regionale oder überregionale Sender oder ein bestimmtes Radioformat // Themen, Verkehr und Wetter aus unterschiedlichen Orten Deutschlands // Länge: Fünf Minuten

Der Ablauf:

  1. Eingangsjingle
  2. Zeitansage
  3. Themenüberblick mit Musikbett
  4. Sprecheransage
  5. Meldung 1: Poststreik in Deutschland
  6. Meldung 2: Europäische Datenbank zur Verbrecherjagd
  7. Meldung 3: Evakuierung des Amsterdamer Flughafens
  8. Meldung 4: Verivox zu steigenden Gaspreisen
  9. Meldung 5: Sperrung der Autobahn A2
  10. Meldung 6: Führerscheinentzug für Franz Beckenbauer
  11. Absage
  12. Verkehr mit Musikbett
  13. Wetter mit Musikbett
  14. Ausgangsjingle

Zu dieser Nachrichtensendung haben wir zwei inhaltlich möglichst identische Textfassungen entwickelt, die nach textlinguistischen Idealvorstellungen einfach bzw. kompliziert geschrieben sind. Für diese beiden Textfassungen wiederum haben wir nach sprechwissenschaftlichen Idealvorstellungen jeweils eine sinnvermittelnde und eine nicht-sinnvermittelnde Sprechpartitur erstellt. Diese Sprechpartituren wurden von je zwei Nachrichtensprechern und -sprecherinnen professionell und realitätsnah gesprochen.

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Textfassungen N1 und N2

Die Grundstruktur beider Textfassungen ist gleich, aber die Informationen werden unterschiedlich aufbereitet.

In N1 werden die Informationen in kurzen Sätzen sprachlich klar gewichtet sowie linear und sukzessive entwickelt. Das Gleiche gilt für die Satzstruktur, z.B. befindet sich die neue Information (das Rhema) am Satzende.

N2 dagegen konterkariert die Regeln zum verständlichen Schreiben u.a. mit sehr langen und komplexen Sätzen, Passiv-Konstruktionen, Nominalgruppen und Funktionsverbgefügen, ausgedehnten Klammerbildungen sowie Synonymen und unnötigen Adjektiven. Das Rhema befindet sich mitunter am Satzanfang.

Als Beispiel die beiden Textfassungen der Meldung 3 „Evakuierung des Amsterdamer Flughafens“:

Bildschirmfoto 2016-01-30 um 22.43.57

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Sprechfassungen P1 und P2

Die beiden Sprechfassungen für jede Textversion unterscheiden sich danach, wie viele Pausen vorkommen bzw. wie lang die Sprecheinheiten dazwischen sind und wie viele und welche Wörter pro Sprecheinheit akzentuiert werden. Beide Merkmale sind entscheidend für die Hörverständlichkeit von Radionachrichten: Mit Pausen gliedert ein Sprecher den Informationsfluss in verständliche Portionen, mit Akzenten weist er auf neue und wichtige Informationen hin.

In P1 werden Gliederung und Akzentuierung systematisch gehandhabt. Die Sprecheinheiten sind relativ klein. Jede Sprecheinheit enthält genau eine neue Information. Nur diese neue Information wird akzentuiert und dadurch für Hörer besonders hervorgehoben.

In P2 dagegen erscheint die Gliederung unsystematisch. Die Sprecheinheiten sind relativ groß, oft doppelt so lang wie in P1. Es gibt also selten Sprechpausen. In einer Sprecheinheit werden grundsätzlich zu viele Informationen akzentuiert und meist automatisch das letzte Wort, unabhängig davon, ob es sich um eine neue Information handelt oder nicht. Dadurch ist die wirkliche Neuigkeit in einer Sprecheinheit für Hörer schwer erkennbar.

Als Beispiel für jede Textfassung der Meldung 3 „Evakuierung des Amsterdamer Flughafens“ hier jeweils die beiden Sprechpartituren:

(Legende: Akzentuierte Wörter sind unterstrichen. Pausen zwischen Sprecheinheiten sind mit | vermerkt; || steht für eine Pause nach einer gedanklich und sprecherisch abgeschlossenen Sprecheinheit)

Klangbeispiele

Meldung 3: N1.P1 – einfach geschriebener Text, sinnvermittelnd gesprochen

6)  Bei einer Untersuchung|

stellte sich die verdächtige Flüssigkeit als völlig harmlos heraus.||

7)  Die Flughafenleitung|

hat den falschen Alarm bedauert.||

8) Sicherheit gehe aber vor.||

 

Meldung 3: N1.P2 – einfach geschriebener Text, nicht-sinnvermittelnd gesprochen

6) Bei einer Untersuchung stellte sich die verdächtige Flüssigkeit als

völlig harmlos heraus.||

7+8) Die Flughafenleitung hat den falschen Alarm bedauert. Sicherheit gehe

aber vor.||

 

Meldung 3: N2.P1 – kompliziert geschriebener Text, sinnvermittelnd gesprochen

4) Nach der Entdeckung einer verdächtigen Flüssigkeit|

im Handgepäck eines Passagiers|

hatte die Polizei|

die Schließung des gesamten Flughafens angeordnet.||

5) Danach stellte sich bei einer Untersuchung|

aber die völlige Harmlosigkeit der sichergestellten Substanz heraus.||

 

Meldung 3: N2.P2 – kompliziert geschriebener Text, nicht sinnvermittelnd gesprochen

4) Nach der Entdeckung einer verdächtigen Flüssigkeit im Handgepäck

eines Passagiers hatte die Polizei die Schließung des gesamten

Flughafens angeordnet.||

5) Danach stellte sich bei einer Untersuchung|

aber die völlige Harmlosigkeit der sichergestellten Substanz heraus.||

 

Nachrichtenforschung mit der Testsendung

Zunächst wurde die Realitätsnähe der vier Fassungen der Testsendung geprüft: Nachrichtenhörer des MDR und die Monitoring-Redaktion des HR haben sie bestätigt. Mit dieser fiktiven Nachrichtensendung wurden Nachrichtenhörer/innen in Behaltenstests und Hörexperimenten konfrontiert. Für die Analyse des Nachrichtensprechens wurde die Sendung von Nachrichtensprecher/innen in ganz Deutschland eingesprochen.

Die Hypothesen

  • Die einfach geschriebene Nachrichtensendung N1 erleichtert Nachrichtensprechern das sinnvermittelnde Sprechen.
  • Die kompliziert geschriebene Nachrichtensendung N2 erschwert Nachrichtensprechern dagegen das sinnvermittelnde Sprechen.
  • Die einfach geschriebene und sinnvermittelnd gesprochene Sendung N1.P1 wird von Hörern gut behalten.
  • Die einfach geschriebene und nicht-sinnvermittelnd gesprochene Sendung N1.P2 wird von Hörern dagegen schlechter behalten.
  • Die kompliziert geschriebene und nicht-sinnvermittelnd gesprochene Sendung N2.P2 wird von Hörern schlecht behalten.
  • Die kompliziert geschriebene und sinnvermittelnd gesprochene Sendung N2.P1 wird von Hörern dagegen besser behalten.

Die Ergebnisse

  • Die Forschungen sind noch nicht abgeschlossen, aber unsere bisherigen Ergebnisse belegen: Die Hörverständlichkeit von Radionachrichten umfasst Sprache UND Sprechen:
  • Verständlich geschriebene Texte erleichtern Nachrichtensprechern das sinnvermittelnde Sprechen, kompliziert geschriebene Texte erschweren es.
  • Verständlich geschriebene Texte erleichtern Hörern das Behalten von Nachrichten-Informationen, kompliziert geschriebene Texte erschweren es.
  • Sinnvermittelndes Sprechen erleichtert Hörern das Behalten komplizierter Texte.

Die entwickelten Standards für hörverständliches Schreiben und Sprechen von Radionachrichten (z.B. Bose/Schwiesau 2011, Schwiesau 2015) erweisen sich als tragfähig.

Weiterführende Literatur

  • Anders, Lutz Christian /Bose, Ines (Hg.) (2009): Aktuelle Forschungsthemen der Sprechwissenschaft (Band I): Sprach-, Sprech- und Stimmstörungen / Sprache und Sprechen von Hörfunknachrichten.(= HSSP 30). Lang: Frankfurt / Main u. a.
  • Bose, Ines /Schwiesau, Dietz (Hg.) (2011): Nachrichten schreiben, sprechen, hören. Forschungen zur Hörverständlichkeit von Radionachrichten. Frank&Timme: Berlin. (zugleich ebook: http://www.e-cademic.de/product/9783865969903).
  • Bose, Ines (Hg.) (2015): Radio, Sprache, Klang. Forschungen zur Radioästhetik und Radioidentität. (= SPIEL Neue Folge. Eine Zeitschrift zur Medienkultur. Jg.1 (2015), Heft 1/2). Lang: Frankfurt / Main.
  • Gutenberg, Norbert (Hg.)(2005): Schreiben und Sprechen von Hörfunknachrichten. Zwischenergebnisse sprechwissenschaftlicher Forschung. (= HSSP 15). Lang: Frankfurt / Main u.a.
  • Schwiesau, Dietz / Ohler Josef (Hg.) (2015): Nachrichten – klassisch und multimedial. Ein Handbuch für Ausbildung und Praxis. Springer VS: Wiesbaden

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